Molls Begegnung mit Südtirol

Oskar Moll
Zweig. 1911
Öl auf Leinwand
58,5 x 64,5 cm
sign. u.r. : Oskar Moll
Privatbesitz

Eine überraschende Neuentdeckung im Œuvre von Oskar Moll war das im letzten Jahr bei Villa Grisebach, Berlin versteigerte und in der Monografie von Salzmann 1975 nicht erwähnte Gemälde mit dem lapidaren Titel „Zweig“. Dieses klassisch moderne Werk, das sich einst in der Sammlung des Berliner Gebrauchsgraphikers und Schriftgestalters Herbert Thannhäuser (1898-1963) befand, zeigt wohl einen Ausschnitt aus der italienischen Provinz Südtirol, wohin es den reisefreudigen Künstler 1911 verschlug.

Bildbestimmendes Motiv ist ein Zweig im Vordergrund, der sich bogenförmig über die ganze Bildbreite streckt. Er umrahmt die tiefer liegende Landschaft mit Obstbäumen, die sich vor einer Dorfszene im Mittelgrund entfaltet. Ein nebelverhangener Himmel mit azurblauen Durchblicken beschließt den Bildhintergrund. Die dunstigen Wolken scheinen gerade abzuziehen, die frühmorgendliche Sonne setzt sich durch und bestrahlt die landschaftliche Szenerie.

Das Gemälde lebt von einem luftigen, lichten und farbintensiven Eindruck, der durch Komplementärkontraste gesteigert wird. Die vorgetragene Maltechnik im impressionistischen und fauvistischen Stil war Moll seit seinen Parisaufenthalten, die 1907 einsetzten, nicht fremd. Lineare und malerische Qualitäten wechseln sich ab, wenn mit dem Pinsel gestrichelte Passagen neben großzügig gesetzten Farbflächen stehen, wenn ornamental geschwungene Äste mit flächendeckenden Baumkronen alternieren. Und dort, wo die Farbe dünn aufgetragen und der leicht vorgrundierte Bildträger Bestandteil der abstrakten Komposition wird, erreicht sie ihren besonders ästhetischen Reiz.

Die am Rande einer Streuobstwiese gelegene Dorfarchitektur mit weiß getünchten Fassaden und charakteristischem Glockenturm auf abgeschrägtem Dachgiebel lässt sich überzeugend mit der Umgebung von Meran in Verbindung bringen. Und die Entstehungszeit des Gemäldes im Jahr 1911 ist ebenso schlüssig. Denn noch Ende desselben Jahres gelangte das Bild zur Kollektivausstellung „Leo Klein-Diepold, Oskar Moll, Max Pechstein, Fritz Rhein, Josef Rippl-Rónai“, die Cassirers namhafter Salon in Berlin ausrichtete. In einer Rezension dieser Ausstellung wurde Molls Leihgabe ausführlich und lobend beschrieben (Eduard Thoma, in: „Die Gegenwart“, 41. Jg., Nr. 1, 1.1.1912, S. 10 f.).